Wedekind – Der Mutige
Sich in Nierstein zu verfahren, muss man erstmal schaffen ... Das Weingut Wedekind scheint es irgendwie zweimal zu geben. Wie wir später lernen, ist das eine das eigentliche Weingut – mehr eine Halle neben einer renovierungsbedürftigen Gründerzeitvilla – und das andere sind die Verkostungsstube und das Wohnhaus von Philipp Wedekind, in einem deutlich älteren Fachwerkhaus. Dazwischen liegt eine Baustelle, die halb Nierstein unzugänglich macht und im Zusammenspiel mit den vielen Einbahnstraßen unser Navigationsgerät zur Verzweiflung bringt. Wir wollen einfach nur den Wagen abstellen.
Ein Parkplatz ist nicht in Sicht, bis wir plötzlich wirklich vor dem Ökologischen Weingut Wedekind, direkt am Marktplatz, stehen. „Na, gefunden?“, grinst uns Philipp Wedekind an. Er empfängt uns lässig, als würden wir schon seit Sandkastentagen miteinander Weine handeln. Manch anderer Winzer ist angespannter, wenn der Kölner Weinkeller zum Listungs- gespräch anrückt. Aber Entspanntheit scheint bei ihm eine vorherrschende Grundhaltung zu sein. Im Hof klettern Kinder herum und der jüngste Sohn meint, er würde uns keinen Wein verkaufen, „wir kennen uns ja noch gar nicht“. Eine gesunde Einstellung, denn Vertrauen ist im Weinhandel eine der wichtigsten Tugenden. Das scheint zum Glück mit diesem Winzer schnell hergestellt zu sein. „Wir haben uns gedacht, wir versuchen es mal mit den PiWis“, erzählen wir ihm. Vorher haben wir natürlich schon einiges verkostet. (PiWi ist das Kürzel für pilzwiderstandsfähige Rebsorten.) „Und dann seid ihr bei mir gelandet, das ist ja nett“, meint er ohne jede Koketterie. Da drängt sich die Frage förmlich auf, warum es so wenig PiWis im Premium-Bereich gibt. „Es gibt ja auch nicht so viele Weinberge mit PiWis und die meisten davon auch noch nicht lange ...“ Klingt logisch, wir schauen trotzdem etwas dumm drein. „Schaut mal, ihr wolltet doch den Pinotin haben.“ Er hatte uns davon abgeraten, weil es ihn bald nicht mehr geben wird. „Den habe ich vor 17 Jahren gepflanzt und jetzt mache ich aus ein paar Reben vielleicht noch Rosé, aber wenn es geht, kommt da bald etwas anderes hin.“ Bevor ich etwas erwidern kann, fährt er lächelnd fort: „Ich kann mir vorstellen, dass ihr den gut fändet. Etwas kühler in der Aromatik, fordernder und gar nicht schlecht. Aber wenn du sowas nur alle paar Jahre hinbekommen kannst und es dann gut, aber nicht wirklich groß ist, macht das keinen Sinn.“ Ich frage staunend: „Also, du hast es 17 Jahre mit der Rebsorte versucht und jetzt weg damit ...?“ Philipp Wedekind erklärt uns, dass es einfacher ist, Riesling zu pflanzen oder Pinot noir. Dann könne man auf viele Jahre Weinbauerfahrung zurückgreifen und wisse genau, auf welchem Boden die Rebstöcke am besten wachsen. Hinzu käme, dass man unter sehr vielen Klonen genau die Pflanzen wählen könne, die am besten zum Weingut und den Lagen passen. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, reißt man die Reben nicht einfach heraus, sondern fragt Nachbarn oder liest in der Fachliteratur nach, wie es besser geht. „Zu den meisten PiWis gibt es das alles nicht, wir stehen da am Anfang, so wie die Leute, die vor 1000 Jahren den ersten Riesling gepflanzt haben.“
Wir fragen nochmal: „Also braucht man erst eine Experimentierphase?“ Seine Antwort folgt prompt und fröhlich: „So ungefähr.“ Da ist kein Groll auf den unwilligen Pinotin oder seine Schöpfer zu erkennen. Dann steht er auf und verkauft Passanten nach einer gründlichen Beratung drei Flaschen Wein. Die Hochachtung vor Philipp Wedekind wächst gerade ins Unermessliche. Ein Magellan der Weinwelt oder besser ein Elcano, denn der brachte immerhin ein paar der Abenteurer durch. Damit es richtig sportlich wird, hat er sich auch noch so ziemlich alles aufgebürdet, was man machen kann: bio, Ecovin und vegan – das gilt für alle seiner Weine, aber darüber will er gar nicht so richtig sprechen.
„Das Thema Nachhaltigkeit kommt meines Erachtens im Weinbau noch viel zu kurz“, meint er knapp. Wahrscheinlich schaue ich wieder etwas fragend. „Bio und das alles ist noch nicht nachhaltig“, sagt er ohne jeden moralischen Zeigefinger, eher als würde er jetzt selbst zum ersten Mal darüber nachdenken. „Das ist ja viel mehr. Allein der CO2-Fußabdruck ist ein Thema, mit dem man sich endlos beschäftigen könnte. Das war auch einer der Gründe, warum ich das mit den PiWis ausprobiert habe. Wenn man weniger spritzen muss, ob bio oder konventionell, fährt man auch weniger im Weinberg herum. Das spart nochmal CO2 und der Boden wird weniger verdichtet.“
Er verkauft zwischendurch wieder zwei Kisten und setzt sich zurück zu uns an den Tisch im kleinen Innenhof zwischen Probierstube und Wohnhaus. „Am meisten CO2“, fährt er nahtlos fort, „entsteht bei Herstellung und Transport der Weinflasche. Da steckt das größte Einsparpotential.“ „Und wie?“, frage ich. „Am besten wäre es vielleicht, den Wein in eine Halbliter-Mehrweg-Bierflasche zu füllen, die ist normiert und wird bis zu 50 Mal wiederverwendet.“ Er schiebt ungerührt hinterher: „Das probier ich demnächst mal aus ...“ Ich vermute, dass er auf einem Ökohof aufgewachsen ist, aber das ist natürlich nur ein Vorurteil. Er berichtet, dass seine Familie nicht viel mit dem professionellen Weinbau zu tun hatte. Die Eltern hatten allerdings zwei Hobby-Weinberge, wie das in Weinbauregionen so üblich ist, und Philipp Wedekind war schon als Kind gerne im Weinberg. So entschloss er sich direkt nach der Schule zu einer Winzerlehre bei Randolf Kauer. Dieser macht sich nicht nur auf seinem Weingut im Mittelrheintal, sondern auch als Dozent an der Hochschule in Geisenheim für den Ökoweinbau stark.
„War für dich von Anfang an klar, dass du bio machen willst?“ Er muss sich nicht einmal bemühen, bei der Frage nicht dogmatisch, sondern sehr gelassen zu wirken. „Es hat sich für mich einfach immer falsch angefühlt, in den Weinberg etwas von außen hineinzubringen, das nicht auf natürlichem Weg entstanden ist. Und was ich hier mache, ist ja auch kein Hexenwerk oder esoterisch angehaucht.“ Er zeigt dabei auf seinen neuen E-Transporter. „Ich bin sogar ziemlich technikverliebt und ich nutze alles, was sinnvoll ist. Uns hilft ja vieles weiter, die Pyrolyse zum Beispiel ...“ Und dann erzählt er ausgiebig von der Pflanzenkohle, die er im Weinberg verwendet. Die sei extrem wertvoll für die Mikroorganismen und den Wasserhaushalt des Bodens und lagere gleichzeitig CO2 im Boden ein. Bevor wir zusammen in die Weinberge fahren, bestellen wir gegenüber für uns und seine beiden Jungs Pizza. Wir erzählen, was wir machen und warum wir Papas Weine dringend verkaufen wollen. „Na okay“, meint der Jüngere, „dann verkaufen wir euch auch was.“ Glück gehabt.
Am Samstag bei schönem Wetter ist im Weinberg, am Roten Hang bei Nierstein, ziemlich viel los. Wanderer, Radfahrer und ein Planwagen mit einem feuchtfröhlich Junggesellenabschied. „Das haben die mittlerweile stark reglementiert“, erzählt Philipp Wedekind, „hier fuhr eine Zeit lang Planwagen an Planwagen ...“ Für viele Winzer sei das ein willkommenes Zubrot gewesen. Wir schauen uns seine Parzellen an, es wuchert und grünt, es summt und flattert. So stellt man sich biologischen Weinbau vor. „Tja, das muss aber alles in den nächsten Tagen raus oder besser untergepflügt werden. Das machen wir komplett mechanisch, in einigen Weinbergen sogar von Hand.“ Biomasse heißt das Zauberwort. Das verrottende Grün belebt den Boden, gibt Nährstoffe und ist ein Turbo für Mikroorganismen.
Wir fahren an Weinbergen vorbei, bei denen wenig grünt, und unter den Rebzeilen ist es trostlos braun, fast verbrannt. „Tja, Glyphosat, aber wenn man nur ein paar Cent für den Liter auf dem Fassweinmarkt bekommt, bleibt einem kaum etwas anderes übrig. Die mechanische Arbeit ist eben deutlich teurer. Ich kann die Kollegen verstehen, aber für mich kommt das nicht in Frage.“ Ich stelle mir vor, wie Philipp Wedekind mit der Hacke die Weinberge bearbeitet, und rechne den Einsatz auf seine Weinpreise hoch. Wahrscheinlich gehört nicht nur zum PiWi-Anbau viel Enthusiasmus und eine positive Grundeinstellung. Ich nehme mir jedenfalls fest vor, zukünftig immer, wenn etwas schiefgelaufen ist, eine Flasche Wedekind zu öffnen und an das 17 Jahre währende Pinotin-Experiment zu denken – dann kann einen eigentlich nichts mehr erschüttern.
Nachts träume ich, ich wäre mit einer von Magellans zerbrechlichen Naos auf einer einsamen Insel im endlosen Pazifik gestrandet. Neben mir sitzt Sebastian Elcano und berechnet den Weg zurück, aber womit fahren? Jetzt kommt von irgendwoher Philipp Wedekind dazu und öffnet drei Mehrweg-Bierflaschen mit Wein, fällt ein paar Palmen, bindet sie zusammen und sticht in See. Mit den Worten: „Ich schnell muss beim REWE an der Ecke zur Leergutrücknahme ...“ ab
ZU DEN WEINEN